Dienstag, 28. Februar 2006

Zeitgeist, Vol. 1

Es begann kurz vor der Jahrtausendwende, da entdeckte Wien wieder einmal Berlin. Nicht, dass diese deutsche Stadt nicht schon in der Zwischenkriegszeit weltoffener und hipper gewesen wäre, aber nach dem Mauerfall trat diese Qualität erneut in extremer Weise in den Vordergrund.

So sah sich Wien, oder vielmehr der hippe Teil davon, also bemüßigt, »ein’n auf Berlin zu machen«. Radiomoderatoren ersetzten Wörter wie »heiß«, »scharf«, »geil« durch »knorke«. Schlaue Lokalmacher wiederum erkannten das Potenzial der »Trendkneipe«, wie es zu diesem Zeitpunkt am Prenzlauer Berg schon gang und gäbe war (vermutlich war das aber schon eine Adaption eines alten Kreuzberger Konzepts). Parallel wurde alles, was in Wien an progressiven Konzepten neu antrat, mit Berlin assoziiert.

Ein bisschen retro, ein bisschen modern, etwas Chic kombiniert mit schnoddrigen Second Hand Möbeln: An sich kein schlechter Ansatz, »trashy meets arty«. Nicht zu groß und nicht zu klein, etwas verwinkelt mit viel Platz zum Kennenlernen. Muffige Studentenkellerparties waren Geschichte, Stadtkinder trafen plötzlich StudentInnen vom Land in neuen Trendlokalen im Zwischenraum von Bar und Barsitzbank.

Neue Urbanität entstand, der Verständlichkeit halber von Wiener Opinionleadern mit dem Label »Berlin« ettikettiert. Dazu konnte im Prinzip jeder seine Musik präsentieren, die Loungegrooves von Kruder & Dorfmeister gaben in den 1990ern vor, dass jedes Lokal einen DJ haben musste, wenn es was auf sich hielt. Da die »Trendkneipe« kein richtiger Club war, war auch der Spielraum größer. Dilettanten konkurrierten mit Profis, dazwischen tat sich ein weites Feld auf, etablierte DJs verfluchten Sittenverfall und lausige Gagen. Trotzdem, irgendwer legte immer auf.

Gut ein halbes Jahrzehnt nach dieser Zeit hat dieses durchaus fruchtbare Phänomen mittlerweile kuriose Blüten getrieben. Immer mehr Lokalmacher treten auf den Plan, es ist ähnlich wie mit den Frisören, die kreative Namen haben. Sind es die Barkeeper der ersten Generation? Kreative auf der Suche nach dem ultimativen Hobby? Entsprechend auch immer mehr kuriose Lokalnamen und DJ-Programme.

So legen nun auch in einem Lokal, das irgendwie ein Würstlstand sein will, DJs auf. Die Imbissbude auf DeLuxe-Niveau, mit dem adäquaten Preisleistungsverhältnis. Obwohl der Bio-Blutwurstburger noch gut und preiswert ist, kostet er mehr als der beste Kebab, der beim Halal meines Vertrauens von einem streng muslimischen Ägypter »Schawerma« geschrieben wird (und aus echt österreichisch geschächtetem Ökokalbfleisch bereitet ist!). Ob dieser dem Vorurteil nach dann mit meinem Geld Extremisten unterstützt, ist mir eigentlich wurscht bzw. vielleicht krieg ich dann im Himmel sogar eine Jungfrau, obwohl ich katholisch bin.

Aber wir kommen vom Thema ab: Alles, was nach dem trendigsten Genre der Zeros, nämlich Electroclash, klingt, ist gut. Dass Electroclash mittlerweile in Berlin ähnlich schief beäugt wird wie Downtempo in Wien, ist den Wienern egal. Zumal die Differenzierung nicht so weit greift, dass zwischen Electroclash, schlechtem 80er Retro, Bastard und enthusiastisch, jedoch stümperhaft zusammengemurksten Lieblingsplatten unterschieden wird – das durfte ich neulich samstags (!!!) in einem dieser »Berlin-in-Wien«-Elektroschuppen feststellen.

Hauptsache, ein paar besoffene Freundinnen des DJs tanzen. Als besondere Garnierung legen in besagten Lokalen als Ergänzung zu den fröhlichen Dilettanten an anderen Tagen dann alternative-Promis auf . Das ist zwar weniger schlimm und kann zeitweise ganz lustig sein. Wenn es aber überhand nimmt und die Quasipromis in den diversen Lokalen rotieren, verliert die Sache stark an Reiz bzw. kann man ebenso gut eine passable Computerplaylist spielen.

Wo wären also diese »DJs« ohne diese Lokale? Sie wären vermutlich nur das, was sie eigentlich sind, was ja in der Regel auch nichts Übles bedeutet. Aber weil wir in einer Zeit der Aufmerksamkeitsökonomie leben und alle sooooo kreativ sind, reicht das alleine nicht mehr. Und die Kreativität der Lokalmacher wurde meist durch Namen und Einrichtung so strapaziert, dass das Programm eine Mischung aus Szene-Bewährtem und Preiswertem sein muss, mit DJing aber nur mehr wenig zu tun hat (Hm - Eigentlich eh wie die Einrichtung).

Komisch, dass gerade ich das sage, aber vielleicht kommt über kurz oder lang doch mal wieder eine Trendwende, in Richtung »DJ nur wo nötig oder gar nicht«. Vielleicht ist diese Entwicklung aber auch nur der nächste Aufguss von Loungegeplätscher im neuen Gewand. Mit Sicherheit macht es Wien urbaner, vielleicht kann die Stadt dann sogar mal den Berlin-Komplex abschütteln.
Vielleicht fährt auch mal jemand nach Berlin und stellt fest, dass es dort in Kneipen meist reicht, wenn die Barperson zeitweise die CD wechselt.

PS: Letzter Spross dieser Pflanze übrigens: »die dondrine«, Kirchengasse 20.
Neben jeder Menge »kreativer« DJ- und Clubnamen findet sich dort am Programm (lt. Falter 8/06) ein gewisser Fred Schreiber als Musikgestalter wieder und (kurios/immerhin) mit Marcus Neve auch einmal in dieser Woche ein einschlägiger Profi.
Inspektion und Bericht demnächst.
Schreibers Kollege David Schalko legt übrigens vier Tage nach ihm zum Imbiss auf.

u-wort

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